Eine Weltpremiere und ein Käsegeheimnis
ANITA MOSER – Anzeiger von Saanen
«Dr Chäs chunnt …» – ganz aufgeregt gehen die sieben Schweizer PowerstationArt-Kinder Markus Iseli und «ihrem» Käse entgegen und begleiten ihn in die Käsekathedrale
Damit ein Käse geniessbar ist, braucht er während der Reifezeit die richtige Pflege. Ähnlich verhält es sich beim Menschen. Damit ein Mensch seinen Platz im Leben finden und seine Talente entwickeln kann, braucht er Begleitung, Inspiration und Zeit. Also wie ein Käse müssen auch Kinder langsam reifen und brauchen dazu eine gute Umgebung und gute Pflege. PowerstationArt, das interdisziplinäre Austauschprojekt zwischen den Niederlanden und der Schweiz, übernimmt den Käse als Symbol des Reifungsprozesses eines Menschen von der Geburt bis zur Volljährigkeit. Im Mittelpunkt des Projektes stehen 14 Kinder, je sieben aus der Schweiz und der Niederlande, die im Jahr 2004 geboren sind und 2022 erwachsen werden. Kulturpaten aus beiden Ländern begleiten die Kinder auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden. Einmal pro Jahr trifft sich die Gruppe, alternierend in der Schweiz und in Holland. Anfang September 2006 wurde das Projekt mit der Herstellung eines Käses, der den 14 Kindern mit verschiedenen kulturellen Hintergründen gewidmet ist und deren Namen eingraviert wurden, auf dem Eggli aus der Taufe gehoben. Vor knapp einem Jahr wurde das Projekt auch in Amsterdam lanciert und am vorletzten Wochenende fanden die ersten Gstaader Gespräche statt – im Beisein der sieben Schweizer Kinder und ihrer Eltern.
Sprachliche Integration
Vierjährig sind sie nun, die 14 PowerstationArt- Kinder. Und dem Alter entsprechend war die Sprache der kulturelle Schwerpunkt der ersten beiden Projektjahre und die beiden ersten Kulturpaten waren Schriftsteller. «Sprache ist ein wichtiges Element der Integration», betonte Gemeinderatsvizepräsidentin Brigitte Zahnd in ihrer Grussbotschaft im Namen der Gemeinde Saanen. «Sprache bringt uns Verständnis für Menschen, die uns nahe stehen, wie auch für anders denkende Menschen, Verständnis für Menschen, die eine für uns fremde Kultur pflegen, Verständnis für Entwicklungen, die in unserer Zeit manchmal enorm schnell fortschreiten.» Und bezugnehmend auf den Veranstaltungsort, den altehrwürdigen Landhaussaal, meinte sie: «Ohne Sprache läuft in diesem Saal nichts. Hier wird diskutiert, werden Entscheide gefällt, Referate gehört oder Feste gefeiert.» Sie kenne keine Projekte, die so viele Jahre dauern, wandte sich Ria Hennink, niederländische Kulturattachée in Bern, an die Anwesenden. Sie hoffe, dass dieses Beispiel von Zusammenarbeit zwischen den zwei Ländern auch in der Zukunft weitergehe und dass das Projekt noch mehr an Kraft gewinnen werde.
Niederländische Frauenpower: Ria Hennink, Kulturattachée in Bern, mit den beiden Projektinitiantinnen Renske Heddema und Hanneke Frühauf.
Verständnis wecken mit Kinderversen
Eine Lanze für Kinderverse und Abzählreime brach an diesem Samstagnachmittag Silvia Hüsler. Mit viel Power verstand es die quirlige Fachfrau für interkulturelle Pädagogik, das Publikum mit Kinderversen aus aller Welt bestens zu unterhalten. «Fast alle Kinder mögen Kinderverse. Es ist die früheste Form von Literatur, der wir begegnen, und das in einem Alter, wo wir den eigentlichen Sinn der Worte nicht verstehen.» Sie riet den anwesenden Lehrkräften, fremdsprachige Kinderverse in die Schulstunden zu integrieren. «Verse bieten eine Gelegenheit, die Muttersprache der Kinder zur Sprache zu bringen», begründete Hüsler. Dadurch würden die Kinder immer wieder erleben, dass ihre Sprache, die sie in ihrer Familie reden, wertvoll sei und auch einen Platz habe in der Schule. Dem fremdsprachigen Kind werde das Gefühl vermittelt, dass seine Sprache interessiere. Christin Markovic, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kindermuseum Creaviva im Paul-Klee-Zentrum in Bern, gab anschliessend interessante Einblicke in die Bildsprache von Paul Klee.
Früchte auf Blau – oder wenn Kinder Paul Klee malen
Paul Klee war auch der Workshop für die Kinder gewidmet. Während die Erwachsenen und Eltern im Landhaus die ersten zwei Projektjahre Revue passieren liessen, setzten sich die sieben Schweizer Projektkinder sowie deren Geschwister und Freunde unter professioneller Anleitung mit Paul Klees Werk «Früchte auf Blau» auseinander. Mit Stolz – und das zu Recht – durften sie am frühen Abend ihre gelungenen Werke auf der Landhausbühne präsentieren. Was die kleinen Künstler in weniger als zwei Stunden fertig gebracht haben, versetzte sämtliche Anwesenden in Staunen.
Von der Literatur zur Architektur
In den ersten beiden Jahren standen den Kindern die Schriftsteller Catalin Florescu (Schweiz) und Ibrahim Selman (Niederlande) Pate. Für die nächsten beiden Jahre übernehmen Mandu Dos Santos Pinto aus Zürich und Radi Elgarbi aus Utrecht die Patenschaft. Alle Paten haben selber einen Migrationshintergrund. «Ausländische Kulturschaffende haben in der Schweiz und den Niederlanden das kulturelle Klima mitgeprägt und bereichert. Deshalb wurden sie angefragt, die Kinder bei ihrem Reifeprozess zu begleiten », begründen die Verantwortlichen von PowerstationArt die Wahl der Paten. «Das Einsetzen der eigenen Kreativität ist ein wichtiges Element bei der Integration. Die Kulturpaten werden den Kindern beibringen, das Unscheinbare zu sehen, und mit ihren fremden und oft noch nicht etablierten Sichtweisen dazu beitragen, ihre Wahrnehmung zu schärfen. Die Kinder ihrerseits bieten uns durch ihren frischen, unverstellten Blick auf die Welt eine grossartige Chance, die eigene Wahrnehmung zu überprüfen und sie eventuell zu relativieren», so die Mitinitiantin Hanneke Frühauf.
Ein «Käsegeheimnis» und ein bilaterales Käsefondue
Zwei Premieren beschlossen das Samstagprogramm. Hanneke Frühauf stellte ihr PowerstationArt-Buch «Das Käsegeheimnis » vor. Märchenhaft erzählt sie, respektive Käserix, seines Zeichens Direktor eines Käseforschungszentrums in Sagittarius, gelegen im Zentrum der Milchstrasse, die Geschichte über den PowerstationArt-Käse. Wer mehr zum Projekt erfahren will, dem sei die Lektüre des handlichen, 66 Seiten starken Büchleins wärmstens empfohlen. Schliesslich wurde der «Powerfamilie» noch eine Weltpremiere aufgetischt: ein Kultur-Fondue aus Schweizer und holländischem Käse – nach den Worten von Ria Hennink ein interkulturelles, internationales, bilaterales, wirtschaftliches Fondue – , entwickelt im Käsekessi von Willi Berger in der Molkerei Gstaad. Ganz im Sinne der Beschreibung auf der Packung, «Käse aus den Gstaader Bergen und von den holländischen Wiesen verschmelzen in einem Topf zur kulinarischen Basis für den interkulturellen Dialog», diskutierten die Erwachsenen nach dem Genuss des länderübergreifenden Fondues, derweil sich die Kinder, mittlerweile vom Stillsitzen etwas müde und unruhig geworden, mit Begeisterung von Silvia Hüsler ins Reich der Märchen entführen liessen.
«Dr Chäs chunnt»
Am Sonntag war es dann endlich so weit: der Käse, ihr Käse, wurde an seinen definitiven Bestimmungsort gebracht, in die Käsekathedrale ob Gstaad. Ganz ungeduldig warteten die sieben Kinder, ihre Eltern und die neuen Paten auf die Ankunft des Käses. «Dr Chäs chunnt, dr Chäs chunnt», riefen die Kinder ganz aufgeregt, als Markus Iseli, dem Anlass entsprechend in halbleinene Hosen und Mälchrock gekleidet, das Räf mit dem Käselaib auf dem Rücken, ins Blickfeld kam. Schliesslich begleitete die ganze Gruppe den Käse in die Kathedrale, wo er die nächsten 14 Jahre lagern wird. Spätestens 2022 werden die 14 Projektkinder hier wieder zusammenkommen. Wir sind gespannt, was dann aus ihnen geworden ist, welchen Weg sie eingeschlagen haben, was sie dannzumal als junge Erwachsene zu Migration und Integration zu sagen haben. «Die Powerkinder sind die jüngsten Kulturbotschafter der Welt. Sie repräsentieren die PowerstationArt- Idee: Wenn man Kinder schon früh auf spielerische Art am Umgang mit Kunst und Wissenschaft beteiligt, fördert man ihr kulturelles Verständnis und damit ihre Integration in unsere Gesellschaft», erklärt Käserix in «Käsegeheimnis ».